Die SCHWARZE SERIE
 

Die Dramaturgie der Fakten

Die SCHWARZE SERIE und andere polnische Dokumentarfilme

Zwischen Sozialrealismus und polnischer Neue Welle

Text? Anfang der 1950er Jahren gab es in Polen kaum Filmproduktionen aus der westlichen Welt zu sehen. Der Sozialistische Realismus, eine ideologisch begründete Stilrichtung aus der UdSSR, prägte die Künste und lieferte ein Bild von Polen, das von der Realität oft weit entfernt war. Weniger als zehn Jahre später kam die polnische Neue Welle ans Licht und thematisierte in ihren Filmen die jüngere Geschichte: den Krieg, die Besatzung und die Nachkriegszeit.

Wie aber konnte es in wenigen Jahren von einer staatlich streng kontrollierten Kunst zu sozialkritischen Filmen kommen?

1956 gab es einen politischen Machtwechsel, als Bolesław Bierut, der stalinistische Diktator der Volksrepublik Polen, nach heftigen sozialen Unruhen und Demonstrationen gestorben war und an seiner Stelle Władysław Gomułka an die Spitze von Partei und Staat trat. Die Entstalinisierung, die er in die Wege leitete, beeinflusste stark die Wirtschaft, wie auch den Kulturbetrieb und ermöglichte die Auseinandersetzung mit Ereignissen, deren Existenz vorher nicht einmal erwähnt werden durfte. Kabaretts und satirische Theater vermehrten sich. Der Film aber war die Kunst, die am meisten von den Veränderungen profitierte: die Anzahl von Filmproduktionen stiegen, und die Kinos wurden zu Diskussionsorten über die zeitgenössischen Lebensbedingungen und die polnische Geschichte.

Dieser geschichtliche Kontext hat die Verwirklichung von Filmexperimenten und kritischen Aussagen gefördert. Während Andrzej Munk mit Człowiek na torze / Der Mann auf den Schienen (1956) und Andrzej Wajda mit Kanał / Der Kanal (1957) politische Filme ins Kino brachten, gab es plötzlich einen Ausbruch von kurzen Dokumentarfilmen, die sich kritisch mit sozialen Problemen auseinandersetzten. Sie werden unter dem Begriff Schwarze Serie zusammengefasst.

Die Schwarze Serie

Text?

In diesem Programm werden davon vier Filme gezeigt:
-- Uwaga Chuligani! / Vorsicht Randalierer!
-- Gdzie diabeł mówi dobranoc / Wo der Teufel
gute Nacht sagt
-- Warszawa 1956 / Warschau 1956
-- Paragraf zero / Der Paragraph Null

Die Schwarze Serie ist wie viele andere künstlerische Strömungen zeitlich schwer einzugrenzen. Eine Möglichkeit ihren Anfang festzulegen bietet Jerzy Hoffmans und Edward Skórzewskis Uwaga Chuligani!, ein Film der 1955 angefertigt wurde und auch als erster in diesem Programm gezeigt wird. Kazimierz Karabasz erinnert sich:

Es ist jetzt schwer zu glauben, dass der Film eine authentische 'Offenbarung' war, nicht nur im Sinne vom Inhalt, sondern auch von seiner Form, Haltung [...]. Als wir aus der Vorführung kamen, waren wir uns schon sicher: vielleicht war es nicht, wovon wir geträumt hatten, vielleicht hätte man es auch anders, besser machen können, und vielleicht war es kein leuchtendes Vorbild und keine universelle Inspiration. Aber was waren diese Fragen wert angesichts der einen und grundlegenden Erkenntnis, dass Film anders sein konnte? Hier war der erste materielle Beweis. Uns dessen bewusst zu werden war unendlich wichtig, weil es unsere Ungeduld anstachelte und unsere Wünsche befeuerte nach etwas anderem zu suchen als dem, das wir neben uns finden konnten. [...] Die Folge dieses Bewusstseins war der Dreh des Films Gdzie diabeł mówi dobranoc.

Das Ende der Schwarze Serie hingegen lässt sich nur schwer festsetzen. Um dies zu verdeutlichen, bildet Dzień bez słońca (1959) den letzten Film des Programms. Er wird üblicherweise nicht mehr der Schwarzen Serien zugeordnet, sondern führt uns in Karabaszs spätere Werke ein.

Die Dramaturgie der Fakten

Text?Die Filme der Schwarze Serie wurden von jungen Studenten aus den Filmhochschulen von Warschau, Łódź (Kazimierz Karabasz, Władysław Ślesicki, Roman Polański) und Moskau (Jerzy Hoffman und Edward Skórzewski) gedreht, die stark vom italienischen Neorealismus beeinflusst waren und den Sozialistischen Realismus zurückwiesen. Es sind Dokumentarfilme über die "nicht dargestellte Welt", so Aleksander Jackiewicz, deren Themen von Rowdytum bis Prostitution reichen und die kompromisslos zwischen richtig und falsch werten. Ein Großteil der Filme, die sich im Gegensatz zur "Versüßung des verfälschten Sozialrealistischen Dokumentarfilms", wie Mikołaj Jazdon es beschreibt, ausschließlich auf die negativen Aspekte des Lebens fokussieren, beinhalten aggressive Fragen und bittere Kommentare.

"Die Dramaturgie der Fakten", ein Zitat von Jerzy Bossak über seinen Film Warszawa 1956, und Untertitel dieser Veranstaltung, soll verdeutlichen, dass die Regisseure der Schwarzen Serie nicht immer Szenen aus dem realen Leben auf der Straße und in Kneipen aufgenommen haben, sondern sie oft nachinszeniert haben. Es gibt ein paar Ausnahmen, wie den Film Paragraf zero, der hauptsächlich mit versteckter Kamera gedreht wurde. Die anderen Filmen erhalten nach Dietrich Leder ihre dokumentarische Wirkung durch folgende, zur damaligen Zeit kaum benutzte Merkmale: Die Kamera sucht und entdeckt gemeinsam mit dem Zuschauer die Ereignisse im Halbdunkel on location in einer Zeit, als die Studios bevorzugte Drehorte waren. Die Handlungen werden nicht oder kaum auf der Stelle abgefilmt, sondern mit Laien nachgestellt, die sich und ihre Probleme selbst darstellen. Wahre Begebenheiten und reale Probleme werden hier thematisiert, aber dann von den Regisseuren durch die Inszenierung gewisser Merkmale und Situationen einer bestimmten Denkrichtung und Fragestellung zugewiesen.

Diese Veranstaltung möchte anhand der bisher kaum vorgestellten Perspektive der Dokumentarfilme dieser Zeit einen Einblick in wesentliche Charakteristika der Schwarzen Serie in Polen geben.